Kulinarische Charta

Kulinarische Charta

„Die Gaststätte Gundel ist für Budapest eine bessere Reklame, als eine ganze Schiffsladung von Touristenprospekten“

(New York Times, 1939)

Die Zeit ist reif, dass wir neue Bücher über die Türkenbelagerung und unsere misslungenen Freiheitskämpfe, über die Trockenlegung großer Sumpfgebiete die Flussbegradigungen und über Trianon schreiben. Der übergreifende Titel würde lauten: „Warum hat sich jene üppige Tischkultur nicht herausgebildet, für die das Karpatenbecken so außergewöhnlich gute Voraussetzungen geboten hat?“

Und es könnte ein letzter Band geschrieben werden, der davon handeln würde, wie das letzte halbe Jahrhundert die Kultur unserer Lebensmittelproduktion herunterkommen ließ, wie sich eine anspruchslose, unterinformierte und zum großen Teil verarmte Masse herausbilden konnte und wie fast alle Schutzwälle vor dem Tsunami der billigen Massenwaren fielen.

Die Unterzeichnenden sind der Überzeugung, dass unsere Ernährungskultur in vielerlei Hinsicht kurz vor Zwölf steht, wenn nicht sogar danach. Unser Ziel ist es, die umkehrbaren negativen Entwicklungen umzukehren und neue, positive Entwicklungen zu starten.

Wir sehen diejenigen ungarischen Winzer als nachahmenswertes Beispiel an, die mit viel Sorgfalt und Arbeit herausragende Ergebnisse erzielt haben und in deren Kellern das Weltniveau, ja sogar dessen Spitze, Einzug hielt. In den Weinanbaugebieten vermissen wir hingegen die gastronomischen Erlebnisse, die dem angemessen wären. Nicht nur wir, sondern auch die internationale Fachpresse.

Unsere Gastfreundschaft und unsere Gastronomie waren irgendwann die Anziehungskräfte unseres Landes, heutzutage sind sie es nicht mehr. Wir möchten, dass sie es wieder werden. Daher sehen wir es als notwendig an, folgende Punkte festzuhalten.

Die Esskultur ist einer der wichtigsten Gradmesser der Zivilisiertheit und der allgemeinen Kultur des Landes.

Sie steht in Wechselwirkung mit der Landwirtschaft, dem Gesundheitswesen und dem Umweltschutz, mit einer Reihe von Berufssparten, dem guten Geschmack der Bevölkerung und dem Ansehen des Landes.

Sie durchzieht die Gesellschaft im sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenhang. Es geht hier um unser Leben. Es wäre also zu erwarten, dass die Bürger und der Staat diese Frage mit der ihr angemessenen Bedeutung behandeln.

Da der Staat im vergangenen halben Jahrhundert eine bedeutende Rolle bei der Zerstörung der Esskultur spielte, hat er nun eine außerordentliche Verantwortung, im Weiteren den Wiederaufbau nicht zu behindern, sondern ihn vielmehr zu unterstützen. Nicht eine einzige Regierung möge unsere Tischkultur als Gegenstand für einen Guinness-Rekord auf staatlicher Ebene oder als Klientenbeschaffung ansehen.

Ohne gute Rohstoffe gibt es keine Gastronomie

In den fünfziger Jahren nahm eine Entwicklung ihren Lauf, die die Gastronomie als Speisung der Massen degradierte und die Menge zum wichtigsten Aspekt erhob. Im Zuge der Massenproduktion verschwand eine Vielzahl von wenig ertragreichen Sorten – Gemüse, Obst, Nutztiere und Wild – aus unserem Leben.

Ungarn lebt nicht mit seinen geographischen Vorzügen. Wir erwirtschaften nur einen Bruchteil dessen, was das Klima und der Boden ermöglichen würden – und auch davon nicht die gute Qualität.

„Immer mehr Menschen entfernen sich vom Boden, immer größer wird unsere Unwissenheit über eine wertvolle Ernährung, und immer stärker sind wir den Erzeugern von Lebensmitteln minderer Qualität und den Preiskämpfen der Handelsleute ausgesetzt“ – sagt Santi Santamaria, der katalonische Koch mit drei Michelin-Sternen, in einem Land, wo die Lage unvergleichbar besser ist. Bei uns lässt sich spüren, dass die Erhaltung oder Verbesserung der Qualität für viele Erzeugerverbände heuztutage überhaupt nicht von Belang ist.

Das gemeinsame Interesse des Landes ist jedoch, dass so viele wie möglich, sich an der Herausbildung einer Vielfalt von Grundstoffen beteiligen. Wir müssen viel mehr gesunde und kulinarisch wertvolle Sorten kultivieren und erhalten. Die Gesetzgebung hat zu unterstützen, dass – dem Beispiel bereits bestehender europäischer Qualitätsschutz-Systeme folgend – eine strenge Regelung zum Qualitäts- und Herkunftsschutz eingeführt wird und an die Stelle der zu nichts verpflichtenden Bezeichnung „Hungaricum“ tritt.

Wir müssen einen neuen, viel höheren Standard für die Ausbildung von Köchen einführen. Dies gilt auch für andere handwerkliche Berufe, die mit der Gastronomie im Zusammenhang stehen.

Dem Beruf des Kochs ist eine wichtige Position bei der Pflege unserer Esskultur zuzuweisen. Köche müssen darauf hinarbeiten, dass gute Zutaten erhalten bleiben und ihren Weg zum Publikum finden, und sie müssen den Gästen auch eine Art „Geschmackschulung“ bieten. Dazu braucht man gut gebildete und offene Fachleute, im wahrsten Sinne des Wortes.

In der Kochausbildung soll grundsätzlich alles weitergegeben werden, was im Laufe der Geschichte von den aufeinanderfolgenden Generationan an Wissen angehäuft wurde. Das heißt: man muss der Jugend die besten Traditionen vermitteln. Es wird dann ihre Aufgabe sein, diese Traditionen weiter zu verfeinern.

Bei uns sieht es leider anders aus. Dieser Beruf wurde noch vor Jahrzehnten durch eine einflussreiche Schicht als Geisel genommen, und wird noch immer in Gefangenschaft gehalten. Bei uns sind praktisch offiziell die gesamten fachlichen Informationen aus dem zwanzigsten Jahrhundert „verboten“ worden. Gleichzeitig wird Mittelmäßigkeit, bzw. das, was sich in weiten Kreisen unserer Gesellschaft an schlechten Essgewohnheiten eingebürgert hat als „Tradition“ bezeichnet.

In der Presse läuft eine Art Erfolgspropaganda weiter, und ungeachtet dessen driftet dieser Beruf immer weiter ab vom Weltniveau. Die Auszubildenden bekommen kein anständiges Lehrbuch zur Hand, sowie auch kein echtes Fachbuch. Auf Grund der Prüfungsanforderungen ist es nicht möglich auch nur ein schwaches Lehrbuch zu schreiben; das zurzeit benutzte Lehrbuch ist bedauerlich.

Da auch Fachbücher nicht erscheinen, können sich selbst die Ausbilder nicht richtig darüber informieren, wie schnell und breitgefächert sich die Welt der Küche weiterbewegt. Bei uns ist der „Meisterkochtitel“ reine Formalität ohne Inhalt. Ähnlich ist die Situation in der Ausbildung bei den Bäckern, Fleischern, Konditoren und den Käseherstellern.

Der Gesundheitszustand der Bevölkerung und die allgemeine Verunsicherung in Fragen des gesunden Geschmacks fordern von uns, dass wir schon den Kindern im Kindergarten besser beibringen, wie wichtig eine wertvolle Ernährung ist.

Die Bevölkerung müsste viel mehr schmackhaftes Gemüse und Obst verzehren, sowie weniger Fleisch, doch von besserer Qualität, natürliche Fette, gute Kohlenhydrate und wertvolle Eiweiße. Die Kinder müssen lernen, einen echten Geschmack von einem künstlichen Aroma zu unterscheiden, sowie echte Speisen von Speiseersatzstoffen. Darüber wird viel geredet, doch in Wirklichkeit geschieht nur wenig.

Unter Beachtung der momentanen wirtschaftlichen Möglichkeiten beim Großteil der Bevölkerung, ist die radikale Verbesserung der Qualität bei den grundlegendsten Lebensmitteln – Brot, Butter, Milch, Kartoffeln, Zwiebeln, Mohrrüben usw. – ausgesprochen wichtig.

Da bis heute Kenntnisse über Qualität massenhaft geschwunden sind, gibt es kein bedeutendes anspruchsvolles Publikum. Ohne verständiges Publikum jedoch gibt es auch keine kulinarischen Genüsse und auch keine gesunde Ernährung.

In der gegenwärtigen Lage können wir nicht damit rechnen, dass der Staat sich unverzüglich um die Lösung der brennenden Aufgaben kümmern wird. Und: auf staatlicher Ebene hat die Gastronomie vorläufig auch niemanden, der sich ihrer wirklich annimmt.

Die Frage der Grundstoffe gehört zum Landwirtschaftsministerium, die der Bewirtung zum Wirtschaftsministerium, der Tourismus zum Ministerium zur Förderung der Regionen. Berührt werden auch noch das Ausbildungsministerium, das Ministerium für Arbeit und Soziales, das nationale Fach- und Erwachsenenbildungsinstitut und der Fachlehrbuchs- und Lehrmittelrat. Darüber hinaus gibt es auch die Agrarmarketing Zentrum und Tourismus Zrt., es gibt das Gewerbeaufsichtsamt, das Amt für Lebensmittelsicherheit und die Handelskammer, und es gibt noch verschiedene Erzeugerräte. Sie funktionieren alle nicht nach den Gesichtspunkten und den Interessen der Gastronomie und werden auch nicht koordiniert.

Unser Ziel ist es, dass so bald wie möglich ein unabhängiges Institut für die Gastronomie entsteht, wo alle fachbezogenen Fragen verstanden und dementsprechend bearbeitet werden, wo eine Musterschule und ein Restaurant betrieben werden, wo ein landwirtschaftlicher Kleinbetrieb angesiedelt ist, wo man auch eine Fachbibliothek und ein Filmarchiv besuchen kann, wo Konferenzen und Weiterbildungen statt finden und wo man Beziehungen zu manufakturellen Erzeugern unterhält, sowie zu Wissenschaftlern und Züchtern, die Arten veredeln.

Das Institut würde sich um eine Vielzahl von solchen Aufgaben kümmern, welche heutzutage von zahlreichen staatlichen Stellen verstreut und unkoordiniert wahrgenommen werden. So ein Institut ist kein Traum: in unseren Tagen wird ein ähnliches in der Nähe von Madrid eröffnet – mit der Förderung durch den Staat, die Kommunalverwaltung, die Kirche, private Stiftungen und die EU.

Die Unterzeichnenden möchten als Interessenvertretung der Gastronomie fungieren. Unser Vorschlag vorerst: Bildet Bürgerinitiativen.

Im Ausland übernehmen – neben den zuständigen Ministerien – Köche mit Michelin-Sternen, private Stiftungen und zivile Organisationen den Löwenanteil der allgemeinnützigen gastronomischen Arbeit.

Unter anderem hängen die Rettung des Kardigemüses, und dass das Geflügel aus Bresse weltberühmt wurde, eng mit dem Namen von Paul Bocuse zusammen. In Italien hat Zwei-Sterne-Koch Fulvio Pierangelini sehr viel für die Rettung der Schweinerasse Cinta Senese getan.

Vor einigen Jahrzehnten geriet die Tradition des Balsamessigs von Modena fast in Vergessenheit, beinahe wären die Iberico Schweine ausgestorben und zahllos stellten sich die kleinen volkstümlichen Lyoner Gaststätten, die Bouchons, in den Dienst des anspruchslosen Massentourismus. Es fanden sich hingegen immer wieder Menschen, die sich für ein besonderes Ziel zusammenschlossen und eine erfolgreiche Rettungsaktion organisierten.

Im Baskenland gibt es mehrere Hundert ständig funktionierende Kochkreise, in denen regelmäßig gekocht wird und Grundstoffe von guter Qualität, sowie manufakturell hergestellte Erzeugnisse gefördert werden. San Sebastian gilt heututage als eines der Weltzentren der Spitzengastronomie. In dieser kleinen baskischen Stadt gibt es drei Restaurants, die sich drei Michelin-Sterne verdient haben. Darüber hinaus gibt es dort hunderte von guten und noch besseren Tapas-Bars und Gaststätten.

Die Unterzeichnenden bitten die ungarischen Bürger, dass sie diesen Beispielen folgen. Einer unserer berühmten Politiker hat ein Nashorn „adoptiert“. Unsere Esskultur ist auch ein Nashorn, das gerettet werden muss. Adoptieren wir es!

Die Unterzeichnenden:

(TBD)